Philippusstift, Wachter-Fenster

Der „deutsche Chagall“ in Borbeck

BORBECK. Wer würde denken, dass Borbeck eine wahre Kostbarkeit besitzt? Manche werden sie – vielleicht ohne große Gedanken - schon oft gesehen und gerätselt haben. Es sind die strahlenden Fenster in der Kapelle des Philippusstiftes, entworfen von Professor Emil Wachter, der nicht selten als der „deutsche Chagall“ bezeichnet wurde. Seit 25 Jahren sind sie nun vollendet und zeigen ein Thema, das mehr als passend in diese Zeit gehört: Mit dem Palmsonntag beginnt eine der außergewöhnlichsten Passionszeiten unserer Tage.

Vielfältige Kunstwerke

Vielen Autofahrern wird eine der bekanntesten Schöpfungen des Karlsruher Künstlers nicht unbekannt sein: Die außergewöhnliche Autobahnkirche St. Christophorus in Baden-Baden, 1978 eingeweiht, ist ebenso sein Werk wie die 1983 fertiggestellte Adveniat-Krypta im Essener Dom. Emil Wachter, 1921 geboren, hatte zunächst Theologie studiert, wechselte nach der Kriegsgefangenschaft 1948 dann zur Malerei und Bildhauerei an der Akademie Karlsruhe. Ab 1954 war er freischaffender Künstler und lehrte dort 1958-1963 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste.

Der 2012 verstorbene Emil Wachter, der in über hundert Einzelausstellungen gezeigt wurde, hinterließ zahllose Werke aus allen Bereichen der Malerei und plastische Arbeiten, eigenwillig, kritisch und mit äußerst beziehungsreichen Hintergründen. Auch in Essen-Borbeck, wo mit den bei der Karlsruher Glaskunst Herbold angefertigten Fenstern des Katholischen Krankenhauses Philippusstift eines seiner spätesten Werke entstand – eine künstlerische Umsetzung des erschütternden biblischen Psalms 22, der vor mehr als 2.500 Jahren entstanden ist. Es ist auch der Psalm, dessen Anfangsworte Jesus Christus am Kreuz gebetet hat.

Der Psalm 22 in Glas

Das Wort „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ berührt eine Frage, die gerade im Krankenhaus viele Betroffene und Angehörige beschäftigt. Hier, im Borbecker Chorfenster, wird sie in brennendem Rot und in zahlreichen Blautönen beantwortet: Gegen alle persönliche Not und Verzweiflung setzt das Fenster die Botschaft, dass niemand verloren ist: „Gott ist immer treu und verlässt keinen, auch wenn die Not noch so groß ist“, heißt es auf hektografierten Blättern aus den Entstehungsjahren. Emil Wachter schreibt im März 1993: „Dieser Schrei des sterbenden Erlösers ist der Schüssel für alle Bilder des Fensters.“

Extreme Farben

Zwei Farbtöne bestimmen das Fenster, durch das das wechselnde Tageslicht scheint: Es ist ein fast brennendes Rot, eingebettet in stilles, fast nächtliches Blau. Das extrem kräftige Rot ist mit einem besonderen Farbstoff ausgeführt: Es ist Selen-Rot, zu dessen Herstellung Gold gebraucht wird. Besänftigt wird es durch ein mit Kobalt und Zinn hergestelltes Coelin-Blau und Blaugrün. Ergänzt werden sie durch helle Ockertöne – ein beabsichtigter Dreiklang der Farben: „So vervollständigen Sie die Trias der Grundfarben Rot, Blau und Gold, die als Bild der himmlischen Hochzeit gelten“, schrieb Wachter selbst. „In diesen drei Farben ist die gesamte Schöpfung (Rot, Blau und Gold ergeben in ihren Mischungen alle übrigen Farben des Spektrums), auch die Einheit von Himmel und Erde repräsentiert.“

Ein unübersichtlicher Comic

Das scheinbar wilde und vielfach comicartig wirkende Bilderchaos sortiert sich jedoch nur langsam: Die Anordnung der Bildmotive ist voller Anklänge und Bezüge und reimt sich erst nach längerer Betrachtung zusammen. Einzelne Motive sind sofort erkennbar: In der Mutter eine Mutter mit ihrem Kind, ein rotes Biest mit gesträubter Mähne rechts unten, Stiere, die einen Menschen bedrohen, ein siebenarmiger jüdischer Leuchter, ein warmes Gesicht, ein weißes Gewand und ein Totengerippe, dazu Frauenschuhe, die Schlangen zertreten. Beinahe fast zufällig auch im Bild ist der gekreuzigte Jesus – erkennbar im linken Bildrand.

Kritischer Blick auf heute

Viele der Motive erklären sich nicht von selbst, denn sie nehmen direkten Bezug auf den Wortlaut des Psalms. Ihn muss man vor sich haben, wenn man auch die modern wirkenden Bildzutaten verstehen will. Ein junges Paar von Spöttern etwa, mit dem der Künstler auf die „modische Verherrlichung des Jungseins als Maßstab und Wert an sich und die anonyme Allmacht der Werbung“ anspielte: „Der Gekreuzigte und seine Botschaft passen nur schwer in die Geld- und Konsumwelt unserer technischen Zivilisation, die im Zeitlichen das Paradies verspricht. Mit der anderen Welt, die sich im Kreuz meldet, lässt sich nicht rechnen. Es gibt sie nicht zu kaufen, sondern paradoxerweise als Geschenk. Der moderne Autonome hat aber seine Ansprüche, die er hier und sofort erfüllt sehen möchte.“

Hoffnung und Heilung

Nicht alles geht so wie es der Mensch gerne will – nicht alles ist machbar. Das sehen wir gerade in diesen Zeiten. Doch das Fenster will zeigen: Selbst in der äußersten Not und Verlassenheit wird die Katastrophe in Zuversicht auf Rettung umgekehrt. Wie in den kleinen Fenstern auf der Ostseite zu sehen, die im April 1995 entstanden und von zehn Heilungsgeschichten aus dem Neuen Testament erzählen. Sie bieten frisch und freundlich – doch ganz bescheiden – einen inhaltlichen Kontrast zum Chorfenster.

Die wie in einem großen Garten eingebetteten Szenen strecken die Kapelle und das elfte Fenster greift ein entscheidendes Motiv aus der großen Glasfläche wieder auf. Es zeigt die Todesangst Jesu im Gethsemane, einem Olivengarten, der auf das alte Motiv des „Christus in der Ölpresse“ anspielt, so Emil Wachter im Juli 1995, der in seinem Text auch auf die „Paradoxie des Evangeliums“ verweist: „Schmach und der Glanz von Tod und Auferstehung gehören zusammen“, erklärt er, selbst wenn es als unvereinbar und unerträglich erscheine Das zeigt das letzte Fenster über dem Eingang zur Kapelle: Hier erscheint Jesus als guter Hirt, der sein Leben für seine Schafe gibt. Er selbst erscheint mit dem Buch in der Hand als „das Wort“ selbst, als Logos und Herr des Kosmos, umgeben von der Erde und den Gestirnen des Weltalls.

cb

Hier der PSALM 22 als Text:

1 Für den Chormeister. Nach der Weise „Hinde der Morgenröte“. Ein Psalm Davids.
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?
3 Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
4 Aber du bist heilig, du thronst über dem Lobpreis Israels.
5 Dir haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut und du hast sie gerettet.
6 Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.
7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet.
8 Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
9 Wälze die Last auf den HERRN! Er soll ihn befreien, er reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat!
10 Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, der mich anvertraut der Brust meiner Mutter.
11 Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott.
12 Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe und kein Helfer ist da!
13 Viele Stiere haben mich umgeben, Büffel von Baschan mich umringt.
14 Aufgesperrt haben sie gegen mich ihren Rachen, wie ein reißender, brüllender Löwe.
15 Hingeschüttet bin ich wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder, mein Herz ist geworden wie Wachs, in meinen Eingeweiden zerflossen.
16 Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes.
17 Denn Hunde haben mich umlagert, eine Rotte von Bösen hat mich umkreist. Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.
18 Ich kann all meine Knochen zählen; sie gaffen und starren mich an.
19 Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand.
20 Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
21 Entreiß mein Leben dem Schwert, aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut!
22 Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel! - Du hast mir Antwort gegeben.
23 Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben.
24 Die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn; all ihr Nachkommen Jakobs, rühmt ihn; erschauert vor ihm, all ihr Nachkommen Israels!
25 Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie.
26 Von dir kommt mein Lobpreis in großer Versammlung, ich erfülle mein Gelübde vor denen, die ihn fürchten.
27 Die Armen sollen essen und sich sättigen; den HERRN sollen loben, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer.
28 Alle Enden der Erde sollen daran denken/ und sich zum HERRN bekehren: Vor dir sollen sich niederwerfen alle Stämme der Nationen.
29 Denn dem HERRN gehört das Königtum; er herrscht über die Nationen.
30 Es aßen und warfen sich nieder alle Mächtigen der Erde. Alle, die in den Staub gesunken sind, sollen vor ihm sich beugen. Und wer sein Leben nicht bewahrt hat,
31 Nachkommen werden ihm dienen. Vom Herrn wird man dem Geschlecht erzählen, das kommen wird.
32 Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat das Werk getan.

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