Die Zinkhütte in Bergeborbeck

Erfahrungen vom Leben und Arbeiten in den Nachkriegs- und 1950er-Jahren

0 13.02.2024

Wenn heute jüngere Menschen in der gepflegten Wohnsiedlung, die Straßennamen wie Ostendeweg oder Flandernstraße führt, spazieren gehen, werden sie kaum merken, dass dieses Viertel eine lange industrielle Vergangenheit hat. Hier war nämlich seit dem 19. Jahrhundert eine Zinkhütte angesiedelt.

Eine Zinkhütte ist ein Industriebetrieb, in dem metallisches Zink erzeugt wird. Dazu benötigt man Rohstoffe wie Erze, die in Muffeln genannten einseitig verschlossenen Röhren eingeschmolzen und von Schwefel befreit werden, so dass große Mengen Schwefeldioxid in die Umgebung entweichen. Bei ihrer Arbeit in extremer Hitze atmeten die Schmelzer folglich gefährliche Schadstoffe ein und waren erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Zuletzt standen für das Beladen und Räumen der Muffeln Maschinen zur Verfügung, was die Arbeit erleichterte.

Arbeitgeber der Bergeborbecker Hüttenarbeiter war die Société Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille Montagne, ein belgisches Unternehmen. Von Belgien expandierte das Unternehmen auch ins Ruhrgebiet. Straßennamen der erwähnten Siedlung erinnern an die belgische Gründung der Zinkhütte.

Um die Belastungen der Hüttenarbeiter zu mindern, sollten – so Betriebsleitung und Belegschaft - Freizeitangebote einen Ausgleich zu der schweren Arbeit schaffen. Auf dem Werksgelände gestaltete Gruppenräume luden darum zu sportlichen Aktivitäten wie Tischtennis ein. An den Wänden wurden Zeichnungen vom Zinkziehen als Symbole für die schwere Arbeit mit aufmunternden Sprüchen verbunden: „Wer schaffen will, muss fröhlich sein“ war eine gut gemeinte Anregung, auch wenn diese mit in der Vorkriegszeit missbrauchten Sprüchen ungewollt assoziiert werden konnte.

Darüber hinaus wirkten kulturelle Betätigungen in das Leben des Stadtteils hinein: Es wurde nämlich ein Werkschor gegründet. Zu Proben traf man sich im Gemeinschaftsraum des Ledigenheims an der Zechenstraße, der mit einem Klavier ausgestattet war. Öffentliche Aufführungen fanden in als Konzertsäle vorbereiteten Turnhallen und in Aulen von Schulen – auch außerhalb von Bergeborbeck - statt. Die Jugendhalle an der Germaniastraße und die Aula der Alfred-Krupp-Schule in Holsterhausen waren Austragungsorte vor jeweils ausverkauftem Haus. Gelegentlich wurde der Werkschor der Zinkhütte – so der offizielle Name – von einem befreundeten Orchester begleitet, wie das Photo anschaulich belegt.

Auch dem Fußball wurde große Bedeutung beigemessen. Deshalb wurde eine Fußballmannschaft gegründet und systematisch aufgebaut. Als diese Werksmannschaft sich nach zahlreichen Freundschaftsspielen zusammengefunden und Spielpraxis gesammelt hatte, betrieb man die Eingliederung in den Sportverein TUS 84/10. Denn man wollte sich dem regulären sportlichen Wettbewerb stellen. Der Verein nahm diese Bestrebungen gern auf und konnte so seine Angebote um die Sparte Fußball erweitern. Die Fußballer der ehemaligen Betriebssportgemeinschaft durften nun am Ligabetrieb teilnehmen. Dafür wurden die Initiatoren vom Westdeutschen Fußballverband ausgezeichnet.

Es war deshalb selbstverständlich, dass die Arbeiter der Zinkhütte mit ihren Familien auch am Vereinsleben regen Anteil nahmen und anlässlich des 70jährigen Bestehens von TUS 84/10 im Jahr 1954 ihre Häuser an der Germaniastraße mit blau-weißen Vereinsfahnen schmückten und auf diese Weise den Festumzug willkommen hießen. Auffallend: Viele Kinder begleiteten den Festzug. Für sie war das Jubiläum von TUS 84/10 eine freudig begrüßte Abwechslung, weil sie sonst überwiegend nur in Hinterhöfen zwischen den Industrieanlagen und der Wohnbebauung spielen konnten.

Besonderes Vergnügen bereitete ihnen das Ärgern der Schrankenwärter an der Werksbahnstrecke von der Zeche Wolfsbank zur Köln-Mindener Bahn. Darüber erzählt ein Zeitzeuge in der Festschrift zur 125-Jahr-Feier der Bergmühlenschule wie folgt:

Der Weg zur Bergmühlenschule führte uns – zwischen Bergmühle und Zechenstraße – an einer Halde vorbei. Oft gingen wir früher von zu Hause los, damit wir auf dem Weg zum Unterricht einen Abstecher auf die Halde machen konnten. Nicht weit weg lag zwischen Zechenstraße und Germaniastraße ein kleiner Bahnübergang. Von der Zeche Wolfsbank führte nämlich eine Werksbahn zur Köln-Mindener-Strecke. Wir Kinder machten uns auf dem Schulweg immer einen Spaß daraus, uns an die geschlossene Schranke zu hängen, wenn diese von einem Bahnwärter in einem Stellwerkhäuschen etwa hundert Meter entfernt mit einer Handkurbel hochgezogen werden sollten. Das gelang dann natürlich nicht. Nicht selten geschah es dann, dass der Bahnwärter schimpfend auf uns Kinder zulief. Aber wir Kinder waren schneller und rannten lachend weiter Richtung Bergmühlenschule. Wir hatten also schon einiges erlebt, wenn wir an der Altenberg-Villa vorbei den Schulhof der Bergmühlenschule erreichten.

Ebenfalls sehr beliebt waren die Kinderfeste, zu denen man möglichst kostümiert erschien. Zum Abschluss versammelte man sich oft zu einem Gruppenphoto, was ein Bild aus dem Jahr 1950 zeigt.

Die Jungen begeisterten sich vor allem für den Fußball und meldeten sich bei TUS 84/10 für die Knabenmannschaft an. Zu regelmäßigen Spielen kam es in dieser Altersklasse aber noch nicht. Trotzdem genoss man das Erlebnis, in einer Gemeinschaft die Freizeit verbringen zu können.

An Sonntagen mussten für alle Mannschaften Trikots, Hosen und Stutzen bereitgehalten werden. Vertreter der einzelnen Mannschaften holten vor dem Spiel die Koffer mit der Sportkleidung dann bei den Frauen ab, die die Kleidung gewaschen hatten. Dies geschah überwiegend im so genannten Waschhaus der Zinkhütte, das zwischen Germaniastraße und Zinkstraße gelegen war. Die Frauen der Hüttenarbeiter konnten sich für einen Termin anmelden und die für die damalige Zeit modernen Waschmaschinen nutzen. Diese entsprachen aber noch nicht dem heutigen Standard und waren entsprechend nicht so wirksam. Das bedeutete, dass bei schlechtem Spielwetter die TUS-Mannschaften keine weißen, sondern nur blaue Hosen anziehen durften. Denn das Weiß konnte weniger gut gereinigt werden als das Blau.

Großen Wert legte man in der Vieille Montagne auf ein angenehmes Betriebsklima. Die Ehrung von Jubilaren erfolgte deshalb in Anwesenheit der Betriebsführung und von Mitgliedern des Aufsichtsrates des Konzerns. Hier ein Bild von der Jubilarehrung 1953:

Der Konzern war eine Aktiengesellschaft. Der Aufsichtsrat wurde für das gesamte Unternehmen bestimmt, das Standorte in mehreren Städten und Gemeinden hatte. Die Zinkhütte Bergeborbeck war für die Arbeitnehmer mit einem Mitglied in dem international besetzten Aufsichtsrat vertreten. Im Jahr 1955 nennt das Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsräte unter anderem folgenden Eintrag: „Aufsichtsratmitglieder: Joseph van Oirbeck, Angleur (Belgien), Vors.; Georges Liébecq, Liège (Belgien), stellv. Vors.; Frederick-John Page-Jempson, Aachen; Fernand Bodson, Liège (Belgien); Felix Sykorra, Essen-Borbeck; Fritz Koser, Untereschbach."

Sitzungen des Aufsichtsrates fanden in der Regel in der belgischen Hauptstadt Brüssel statt, so dass zur Teilnahme eine für damalige Verhältnisse zeitraubende Reise von Bergeborbeck nach Brüssel unternommen werden musste. Denn auf Hin- und Rückfahrt kam es zu aufwendigen Grenzkontrollen an der deutsch-belgischen Grenze. Ein Schengener Abkommen zur Abschaffung dieser Kontrollen gab es noch nicht.

In der Zeit zwischen den Jahren 1933 bis 1945 schien es der belgischen Konzernleitung ratsam, statt der französischen Bezeichnung die wörtliche Übersetzung ins Deutsche als den Namen des Unternehmens zu verwenden, also „Aktiengesellschaft des Altenbergs für Bergbau und Zinkhüttenbetrieb“. Um die einzelnen Standorte besser voneinander unterscheiden zu können, setzte man im Schriftverkehr hinter diese Bezeichnung den Namen des jeweiligen Standortes. Diese gängige Praxis behielt man nach dem Krieg bei. Ein Schreiben vom 31. März 1956 – von der Bergeborbecker Werksleitung an ein Belegschaftsmitglied gerichtet – verwendete diesen Briefkopf:

Der Schluss des Briefes enthielt allerdings nur den Stempel des Gesamtkonzerns, der mit den Unterschriften des Bergeborbecker Hüttendirektors Kurt Eiberle und des Prokuristen beglaubigt wurde:

Umgangssprachlich verwendete man aber nur den Begriff „Zinkhütte“ oder die franko-deutsche lautliche Anpassung „Vile Montang“ statt „Vieille Montagne“ (Alter Berg).

Für die Zinkhütte war es immer schwierig, Fachkräfte zu finden. Die harte Arbeit schreckte viele Männer ab. Der Bau von Siedlungen galt als ein besonders wirksames Mittel zur Anwerbung und auch Bindung des Arbeiters an einen Betrieb. So entstanden ein Ledigenheim sowie Wohnungen für Familien im Umkreis der Zinkhütte.

Das Bild oben zeigt die Germaniastraße mit Blick in Richtung Borbeck-Mitte. Standpunkt des Photographen war die Kreuzung Zinkstraße / Erdwegstraße / Germaniastraße. Die sich lang hinziehende linksseitige Häuserzeile ist eine ehemalige für Werksangehörige gebaute Wohnsiedlung mit freistehenden (ein- bis zweigeschossigen) Doppelhäusern. Sie war durch eine einheitliche Architektur gekennzeichnet.

Die Ausstattung der Häuser war sehr einfach. So waren in der Regel die – auch außerhalb des Hauses – errichteten Toiletten ohne Wasserspülung. Im Gegensatz dazu war die in der Nähe zwischen Germaniastraße, Bergmühle und Weizenstraße gebaute Altenberg-Villa komfortabel eingerichtet. Sie wurde von Generaldirektor Meusel bewohnt. Die enge räumliche Struktur der Siedlung und die Nähe zum gemeinsamen Arbeitsplatz förderten das Gefühl, zusammen zu gehören.

Als im Laufe der Zeit die Eigentümer der Siedlung wechselten, entschieden neue Bewohner, im Rahmen von Modernisierungen das Aussehen ihres Hauses selbst zu bestimmen und Eingriffe in das architektonische Ensemble nach ihren persönlichen Vorstellungen vorzunehmen. Auf diese Weise kam es ganz allmählich zu einer Vermischung von Baustilelementen der Siedlungshäuser. Die Siedlung besteht heute noch, aber das Erscheinungsbild der Siedlungshäuser hat sich verändert.

Gegenüber der Arbeitersiedlung befand sich das Werksgelände der Zinkhütte. Es begann etwa hinter dem auf dem Bild rechts geparkten Auto. Inzwischen sind die Industrie- und Wohngebäude auf der rechten Seite verschwunden. An ihre Stelle trat die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gebaute Altenberg-Siedlung.

In den 1960er-Jahren setzte der Niedergang des Verfahrens zur Zinkgewinnung ein. Der apparative und manuelle Arbeitsaufwand, der hohe Energieverbrauch, das geringe Ausbringen von Zinkmetall und die hohe vor dem Hintergrund wachsenden Umweltbewusstseins von der Bevölkerung als besonders störend aufgenommenen Emissionen führten letztlich zum Aussterben dieses Verfahrens. Zwischen 1968 und 1972 wurde der Betrieb der Zinkhütte Bergeborbeck darum eingestellt. Das Werk wurde demontiert. Ein wesentlicher Bestandteil Borbecker Industriegeschichte war zu Ende.

Wolfgang Sykorra

Quellen:
Bergmühlenschule (Hrsg.): Festschrift zur 125-Jahr-Feier.Bergmühlenschule 1876-2001, Essen 2001

Diverse Zeitungsartikel
Franziska Bollerey u.a.: Siedlungen aus dem Reg.Bez Düsseldorf. Beitrag zu einem Kurzinventar, Essen 1983    
Andreas Koerner: Zwischen Schloss und Schloten, Die Geschichte Borbecks, Bottrop 1999
Andreas Koerner, Klaus Scholz, Wolfgang Sykorra: Man war nie fremd. Die Essener Bergbaukolonie Schönebeck und ihr Stadtteil, Essen 2009
Julius Mossner (Hrsg.): Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, Berlin 1955
Zinkhütte: Zeugnis (Brief an einen Werksangehörigen vom 31. März 1956, Archiv Sykorra)
Wikipedia-Seiten: ´Vieille Montagne`, ´Muffelöfen`, ´Zinkhütte`, ´Arbeitersiedlung. Abgerufen am 5.2.2024
www.rheinische-industriekultur.de. Abgerufen am 3.2.2024
www.tus8410-essen.de. Abgerufen am 12.2.2024

Bildnachweise: 1: Stadtbildstelle; 2,3,4,6: Privat (Archiv Sykorra); 5: Privat (Archiv Kirchner/borbeck.de); 7: Privat (Archiv Mikolajczak, BN); 8: Privat (Archiv Beckmann/KHV)

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