Klüngeln und Klüngelskerle

0 21.09.2023

Den Ausdruck „Kölscher Klüngel“ kennt fast jeder. Der „Klüngelskerl“ oder „Klüngelspitt(er)“, der Blechflöten blasend mit Pferd und Wagen durch die Straßen fuhr, ist dagegen fast völlig in Vergessenheit geraten. Was es mit dem „Klüngeln“ und der „Klüngelei“ auf sich hat und wo der „Klüngelskerl“ abgeblieben ist, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

Lumpen-Walzer

Die Journalistin Michaela Vieser zitiert in ihrem Artikel über den Lumpensammler ein Lied für Akkordeon mit Harmonika-Begleitung aus dem Jahre 1959. Darin wurde im Walzertakt gesungen: „Jahraus, jahrein fährt er mit seinem Wagen, jahraus, jahrein bei uns von Tür zu Tür. Jahraus, jahrein, hört man ihn singend fragen: Haben sie Eisen, Lumpen, Knochen und Papier. Sein altes Lied hat jeder schon gehört, doch hat er nie ein Mädchenherz damit betört.“ (Nach: Michaela Vieser: Der Lumpensammler).

Das Lied enthält zwei Wahrheiten. Erstens gibt es den Lumpensammler nur noch als Kindheitserinnerung und zweitens gingen ihm nicht nur die Mädchen aus dem Weg. Der Lumpensammler war ein beliebtes Motiv in Liedern und Gedichten. Die Bandbreite reichte vom Revolutionslied bis zum Schunkellied. Aus der revolutionären Zeit um 1848 ist das satirische, sozialkritische Lied „Als Lumpen tun wir fahren“ überliefert, dessen erste, dritte und letzte Strophe lautet:

„Hat Gott mich verdammt auf Erden just ein Lumpenkerl zu werden. Darum ruf ich ungescheut: Lumpen, Lumpen weit und breit.“ . . .

„Fort mit Samt und Seidenlappen, fort mit Prunk und Narrenkappen, fort mit Weihrauch, Schwert und Dampf, vorwärts in den Lumpenstampf.“. . .

„Eure Rechte von Halunken eingestampft mit Stiel und Strunken, eingestampft mit Lump und Laus, wird ja doch nichts Bess’res draus.!“

Vom Haderlump"

Der Lumpensammler gehörte zu den armen, oft invaliden, randständigen Menschen, die wegen des täglichen Umgangs mit unhygienischen Sachen keine hohe Lebenserwartung hatten. Die Tätigkeit, der er nachging, zählte zum unehrlichen Gewerbe. Der Lumpensammler hatte keinen guten Ruf. Er wurde oft als Haderlump (Hader ist ein anderes Wort für Lumpen.) beschimpft und herabgewürdigt, wie zum Beispiel im Bericht eines Klosterbruders aus dem Jahre 1609., in dem die Rede von einem armen Mann ist, der „umb und umb“ im Dorf herumging und mit seinem Ruf „Haderlump, Haderlein, Plunderlein, bringt her beschissene Windelein!“ auf sich aufmerksam machte.(Quelle: Google, Beruf Lumpensammler). Wenn Kinder des Lumpensammlers ansichtig wurden, riefen sie „Der Haderlump ist da“ und tauschten mit ihm ihren gesammelten Abfall gegen Bilder oder bunte Bänder.

Der italienische Arzt Bernardino Ramazzini (1633-1714), Verfasser der ersten Monographie über Berufskrankheiten, hielt in seinem Buch „De Morbis Artificium Diatriba“ von 1700 fest: „Im Lumpensammler konzentrieren sich die ekelerregenden Dünste von Kot und Leichen.“ Die textilen Fasern der Stoffreste waren ein wichtiges Material für die Papiergewinnung. Um Missbrauch auszuschließen, wurden die Lumpensammler mit Pässen ausgestattet und mussten ihre Fuhren an festgelegten Papiermühlen abliefern. Sie erhielten in der Papier-, später auch in der Knochenmühle für das Sammelgut Geld, um damit die auf Kommission erworbenen Waren zu bezahlen. Sie waren somit Teil einer Kreislauf-und Nischenökonomie. Die ambulanten Händler waren zur Dauermigration gezwungen. War die Nachfrage in einem Ort erschöpft, mussten sie weiterziehen. Zur Illustration des Selbstverständnisses eines Lumpensammlers zitiert Michaela Vieser einen Text aus dem Jahre 1850:

Ja, seh er mich nur an! – Ich bin ein Lumpensammler, ein armer, jämmerlich einherziehender Kerl mit hohlem Aug und eingefallener Wange, mit verschossener, bewichster Jacke und zerrissener Hose. – Braucht nicht verächtlich wegzuschauen von meiner bleichen Gestalt, auch nicht das Sacktuch vor Nase und Mund zu halten, weil ich eben keinen Ambra- oder Moschusduft von mir gebe, wie die feinen Pflastertreter, die um nichts besser sind als die Lumpen in meinem Sack. Ich bin ein ehrlicher Kerl, der des Lebens Mühe und Qual bis auf die Neige geleert hat und in dem Meere des Wehes und der Schmerzen, auch wohl zivilisierte Gesellschaft genannt, untergesunken ist, bis er auf den Lumpensack zu liegen gekommen.“

Blütezeit des Lumpensammelns

Die Blütezeit des Lumpensammelns setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Allerdings führte die Industrialisierung zu einer Ausweitung der Abfallproduktion. Die Zeitschrift, die in der 1920er-Jahren in der Spandauer Vorstadt in Berlin von der damals größten europäischen Lumpensammlerbörse herausgegeben wurde, trug nicht ohne Grund den Titel „Rohproduktgewerbe“. In der NS-Zeit wurde das Sammeln von Altmaterial politisch-ideologisch instrumentalisiert. Ende Januar 1937 verordnete der Reichskommissar für Altmaterialverwertung die Sammlung von Knochen an den Schulen, eine Maßnahme gegen die kriegsbedingte Rohstoffknappheit. In zwei weiteren Erlassen aus den Jahren 1938 und 1939 wurden die Vorgaben erweitert und präzisiert. In einer Dia-Serie mit dem Titel „Der Knochen als Rohstoff und seine Verwertung“ wurde den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung der Knochen mit folgenden Worten ans Herz gelegt:

„Knochen (rohe und ausgekochte) dürfen nicht in den Abfall geworfen, verbrannt (s. Krematorien), vergraben oder als Futter für Schweine verwendet werden! Wenn in jedem deutschen Haushalt monatlich von einem Schulkind nur 2 Kilo Knochen gesammelt werden, so ersparen wir der deutschen Wirtschaft im Jahre 400 000 Waggons Knocheneinfuhr. Das entspricht der Strecke, welche die Läufer mit dem Olympischen Feuer von Athen (Olymp) bis Berlin (3 000 km) gelaufen sind.“ Es ist fraglich, ob dieser Vergleich die Sammelintensität gesteigert hat. Zur Veranschaulichung wurden den Schulen Informationstafeln zur Verfügung gestellt und Besuche eines Schlachthofs oder wahlweise einer Düngemittel-, Leim-, Gelatine-, Kerzen- oder Seifenfabrik empfohlen.“ (Nach: Elisabeth Vaupel & Florian Preiß: „Kinder, sammelt Knochen!“)

„Eisen, Lumpen, Knochen und Papier" ...

1939 verkündete Hermann Göring, der zwei Jahre zuvor das Reichswirtschaftsministerium übernommen hatte: „Der Lumpen ist ein wichtiger innerdeutscher Rohstoff, der insbesondere durch fleißiges Sammeln der Schulkinder zusammengetragen werden kann.“ Im Kindermund wurde daraus die Variante „Eisen, Lumpen, Knochen und Papier, für Hermann Göring sammeln wir“. Im Volksmund hielt sich lange die Version „Eisen, Lumpen, Knochen und Papier, ausgeschlagene Zähne sammeln wir“. Im Februar 1940 wurden die Sammlungen auf alle anderen in den Haushalten anfallenden Alt- und Abfallstoffe ausgeweitet. Gesammelt wurden Lumpen, Aluminium (Flaschenverschlusskapseln), Folien (Silberpapier), Tuben, alte Münzen und Knochen Im März 1940 rief Göring, kurz vor dem Geburtstag des „Führers“, zur Metallspende auf. Anlass war die durch das Kriegsgeschehen hervorgerufene Rohstoffknappheit Deutschlands.

Die Schulen erhielten per Erlass klare Anweisungen in Wort und Bild, wie das Thema im Unterricht (vor allem im Chemieunterricht) zu behandeln sei. Knochen galten als wichtiger wiederverwertbarer Rohstoff auf technischem, militärischem und landwirtschaftlichem Gebiet. Knochen wurden unter anderem für die Herstellung von Seife, Creme, Glycerin, Dünge-, Pflanzen- und Futtermittel, Kerzen, Bremsflüssigkeit, Dynamit verwendet.

An den Schulen kontrollierten Schüler und Lehrer als „Schulwarte“ den reibungslosen Ablauf der Sammlungen an ihren Schulen. In einem ausgeklügelten Prämiensystem wurden seit 1941 materielle Anreize, zum Beispiel Schreibmaterial, geschaffen. Exemplarisch sei das Sammelergebnis der Richthofenschule in Frintrop für das erste Drittel des Jahres 1943 aufgeführt:  871 kg Knochen = 2613 Sammelpunkte, 510 kg Lumpen = 2550 Punkte, 24 kg Buntmetall = 72 Punkte, 1830 kg Eisen = 1830 Punkte, 1300 kg Papier = 2600 Punkte, 643 Flaschen = 643 Punkte. Dazu kamen noch sechs Kaninchenfelle, sie erbrachten 60 Punkte. Durchschnittlich wurden pro Schulkind 45,1 Punkte gesammelt.

Vom Lumpensammler zum Klüngelskerl

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Lumpensammler vom Klüngelskerl abgelöst.  Zum Ausdruck „Klüngel“ werden in den einschlägigen Wörterbüchern mehrere Bedeutungsvarianten angeboten. Im Grimm’schen Wörterbuch sind es gleich drei: Klüngel oder Klöngel bezeichnete demnach a) alte, lumpige Kleidungstücke, b) faule Jungen oder träge Frauenzimmer und c) faule Herumtreiber und langsame Arbeiter. Dazu kamen die Adjektive schlampig und unordentlich. Klüngel gibt es als Ausdruck für den Filz in Politik und Verwaltung, für ein außereheliches, mehr oder weniger offenes Liebesverhältnis und für unbrauchbaren Hausrat. Man kann etwas ausklüngeln oder als „Klüngelfott“ etwas verklüngeln und muss dann wegen der Schlampigkeit den hl. Antoinus von Padua als „Klüngelanton“ um Hilfe bei der Suche nach der verlegten Sachen bitten.

Wer eine knifflige Tätigkeit ausübt, leistet „Klüngelsarbeit“. Der Ausdruck Klüngel, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Schriftsprache bezeugt, leitet sich von „klungelîn“ (ahd.) ab, das in den rheinischen Mundarten seine ursprüngliche Bedeutung als (kleines) Knäuel, Klumpen und Lumpen bewahrt hat. Im Frühneuhochdeutschen erscheint es als Substantiv Klungel und in der Verbform klungeln. Um 1830 gibt es erste Belege für eine Bedeutungsverschlechterung. Die rheinische Herkunft des Ausdrucks Klüngel im Sinne von Vetternwirtschaft, Filz und Kungelei setzt sich durch. Er fügt sich in die bekannten drei „K“ von Köln ein: Kölsch, Karneval und Klüngel.

Gute Zeit für Altwarenhändler

In der Nachkriegszeit begann für die Altwarenhändler eine gute Zeit. Nach und nach fing man in den Haushalten damit an, die alten Bestände wegzuwerfen. In Zeiten des sogenannten „Wirtschaftswunders“ konnte man sich neue Sachen leisten. Die alten Leitungen wurden herausgerissen, Zinkbadewannen durch moderne Badewannen und alte durch neue Öfen ersetzt. Der Essen-Frintroper Mundartdichter Willi Schlüter erinnert in seinem plattdeutschen Gedicht „Klüngelskaels“ aus dem Jahre 1951 an die alten Zeiten, in denen die Klüngelkerls, vor allem im Hinblick auf Metall und Eisen, Hochkonjunktur hatten. Er beschreibt auch die Begeisterung, die der Klüngelskerl bei den Kindern auslöste:

Spi’el’n sö ‘n lustig Lied, Koom’n de Blagen aangebossen; Brochen Water fö dän Zossen, Gaww ‘ne Handvull Klüngels aww – Un wochen wat’et dofö gaww. Kleine Kinner kregen Mü’lkes uunt Papie, Gröddere Ü’ekes, awwer blooß tau Zi’e, Fleuten, Knickers, bunte Steene, Hampelkäels met kromme Beene!“

Übersetzung: „Spielten sie ein lustiges Lied, kamen die Blagen angeschossen; brachten Wasser für den Zossen, gaben eine Handvoll Lumpen ab – und warten ab, was es dafür gab. Kleine Kinder kriegten Bonbons und Papier, größere Ührchen, aber nur zur Zier,, Flöten, Knicker, bunte Steine, Hampelmänner mit krummen Beinen!“ Heutzutage, so konstatiert Schlüter, flöten die Kerle wie toll - und der Karren ist immer voll!. Das war Anfang der 1950er-Jahre. Lang ist’s her! (Vgl. auch die Erinnerungen von Frank Wachsmuth an Knickerwasser und Klümpchenbuden in der Umgebung der Zinkhütte. In: Borbecker Beiträge 3/2021)

Klüngelskerle in Borbeck

In Borbeck waren die Klüngelskerle noch bis in die 1980er-Jahre unterwegs, mit dem Wagen, aber ohne Pferde, häufig mit einem Helfer an der Seite. Die Erkennungsmelodie (kein „lustiges Lied“, wie Schlüter schrieb, sondern ein nervtötendes Gedudel) kam als Endlosschleife vom Band oder wurde vom Fahrer aus dem Schritt fahrenden Fahrzeug durch das geöffnete Seitenfenster auf der Blechflöte live geblasen. Für die Eisen- und Metallsachen, von Lumpen war längst keine Rede mehr, gab es in paar Groschen. Eine Aufnahme aus  Jahre 1964 zeigt einen Borbecker Klüngelskerl mit Pferd und Wagen in Aktion. (borbeck.de, Fundstücke, 03.02.20).

Der Klüngelskerl à la Willi Schlüter ist längst verschwunden. Die Blechflöte ist verstummt. Heute sind in einigen Kommunen noch vereinzelt lizensierte mobile Schrotthändler unterwegs. Sie fahren wie die weiblichen „Schrottis“ in Gelsenkirchen oder die pinken „Schrottladys“ in Essen mit ihrem Kleinlastwagen medienwirksam durch die Gegend und sammeln Eisenschrott und Metall. An die Stelle der „Kerle“ und „Mädels“ sind Recycling- oder Wertstoffhöfe getreten, deren Charme überschaubar ist und wo man für die Abgabe der Altstoffe, anders als früher, bezahlen muss. Für die Entsorgung des Hausmülls sorgen Konzerne wie beispielsweise der Interzo-Konzern mit 1 Milliarde Euro Umsatz im Jahr. Als „Klüngelskerle“ der alten Schule. Wer weiß, wie lange noch! Manchmal wünschte man sich angesichts der Müllberge an den Straßenrändern und der wilden Müllkippen in der Natur die Klüngelskerls zurück. Aber wie so oft steht dem Wunsch die Wirklichkeit im Wege.

Franz Josef Gründges

 

Quellen:

Vaupel, Elisabeth & Preiß, Florian: „Kinder, sammelt Knochen!“, in: NTM, Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin – https://link.springer.com/article/10.1007/s00048-018-0194-y.

Vieser, Michaela Der Lumpensammler, in: Tagespiegel: Andere Zeiten, andere Berufe, 06.09.2009 – https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/der  nlumpensammler-4772482.html.

Lumpensammler: https://www.mittelalterlieder.de/lieder/historisch/deutsch/lumpensammler/?utm_content=cmp-true).  

Jahresbericht der Richthofenschule für das Schuljahr 1940/41.

Schlüter, Willi: Nachlass im Archiv des Kultur-Historischen Vereins Essen-Borbeck.

Honnen, Peter: Kappes, Knies & Klüngel. Regionalwörterbuch des Rheinlands, Greven Verlag, Köln 2003.

Digitales Wörterbuch der Brüder Grimm, http://dwb.uni-trier.de/de/

Gründges, Franz Josef: Willi Schlüter, in: borbeck-Lexikon, https://www.borbeck.de/lexikon-details/schlueter-willi.html

Wo steckt der Klüngelskerl?, in: borbeck.de, „Fundstücke“ vom 03.02.2020, https://www.borbeck.de/blog-details/wo-steckt-der-kl%25C3%25BCngelskerl.html

Foto oben: Manfred Pegam 1964

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