Schüler erinnern an jüdische Schicksale

Stolperstein-AG des GymBo in Borbeck unterwegs

0 09.11.2019

BORBECK. Erinnern, Schweigen – und Handeln: In diesen Tagen der Freude über den Fall der Mauer am 9. November vor 30 Jahren und die deutsche Wiedervereinigung mischen sich auch andere Gefühle. „Geschichte wiederholt sich nicht“ – das ist ein gewichtiger Spruch, der selbst oft wiederholt wird. Was nicht davon abhalten darf, aus der Geschichte zu lernen: Vor dem Jahrestag der Pogrome auf Nachbarn, die durch ihren jüdischen Glauben ins Fadenkreuz des nationalsozialistischen Rassenwahns kamen, haben sich nun Schülerinnen und Schüler auf den Weg durch Borbecks Straßen gemacht. Denn auch hier spielten sich dramatische Szenen ab, als die tägliche Drangsalierung der jüdischen Mitbürger in den offenen Terror mündete. Uns erreichte ein Bericht aus der „Stolperstein-AG“ des Gymnasiums Borbeck (GymBo):

Die Stolperstein – AG macht sich an die Arbeit

Die Stolperstein-AG am Gymnasium Borbeck startete am 7. November mit einer nachhaltigen Aktion, die auf viele Wiederholungsaktionen hofft. Annika, Vivien, Jenin, Yavuz, Fabian, Mouaad, Kübra und Sathana aus der Jahrgangsstufe 10 machten sich gemeinsam mit Herrn Dr. Thommes (Bildungswerk der Humanistischen Union) und Hatice Güngör, die als Studienrätin im Team der Mittelstufe tätig ist, auf den Weg in die Borbecker Innenstadt. Gewappnet mit Eimern, Bürsten und Schwämmchen sollten die Stolpersteine, die teilweise auch ehemaligen Schülern des Gymnasiums Borbeck und ihren Angehörigen gewidmet sind, gesäubert werden. Im alten Glanz können sie ihrer Funktion, den Opfern des Holocaust wieder einen Namen, eine Identität zu geben und die nachfolgenden Generationen zu mahnen, wieder nachkommen. Und sehr bald sollte sich zeigen, wie notwendig diese Aktion war.

1. Station: Wüstenhöfer Straße

Herr Dr. Thommes hatte einen Stadtplan mit den Adressen der Stolpersteine in der Borbecker Innenstadt vorbereitet. Der erste Stein von Arthur Salzmann, dessen Sohn Werner Salzmann von Ostern 1920 bis Ende März 1927 das Gymnasium Borbeck besuchte, wurde sehr bald auf der Wüstenhöferstraße 221 erreicht. Während ein Teil der SchülerInnen putzte, stellte sich der Rest auf Fragen der Passanten ein. Die Geschichte des Arthur Salzmann, dem der Stein gewidmet wurde, sollte erzählt werden. Er hatte dort seinen letzten freiwilligen Wohnort gehabt. Er hatte Freunde und Nachbarn gehabt. Er war Familienvater. Er war ein Geschäftsmann. Er hatte ein glückliches Leben -- bis er alles in einer Nacht verlor und in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Es waren teilweise die Nachbarn, die ihn verraten hatten und nach seiner Deportation seinen Besitz „arisieren“ und somit  kostenlos erwerben konnten.

Beim Polieren wurde über dieses Schicksal gesprochen. Es erschien ganz so, als wurde nicht nur der Name wieder zum Vorschein gebracht, sondern auch die Geschichte von Arthur Salzmann. So dauerte die Politur auch nicht lange und schnell konnte Arthurs Stolperstein seinen alten Glanz zurückgewinnen. Zufrieden und hochmotiviert machten wir uns auf den Weg zum Borbecker Markt, wo die nächsten Steine auf uns warteten, im wahrsten Sinne des Wortes.

2. Station: Borbecker Markt

Auf dem Borbecker Platz liegen an der Ecke zum Haus mit der Nr.2 die Stolpersteine der Familie Loewenthal. Der Sohn, Manfred Loewenthal, besuchte von Ostern 1932 bis Ostern 1938 das Gymnasium Borbeck und musste in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 mit ansehen, wie die Nationalsozialisten das Geschäft seines Vaters und andere jüdische Geschäfte rund um den Borbecker Markt demolierten. Am 11. November 1938 wurden Manfred und sein Vater Sally Loewenthal in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Obwohl sie zeitweise wieder freigelassen wurden, konnten sie kein selbstbestimmtes Leben mehr führen und waren ständig Schikanen ausgesetzt. Die Familie kam getrennt voneinander in jeweils unterschiedlichen Konzentrationslagern ums Leben.

Die Gruppe hatte angesichts des trüben Wetters und des Zustands dieser Stolpersteine enorme Schwierigkeiten, diese zu finden. Sie waren kaum von den umliegenden Pflastersteinen zu unterscheiden. Die Reinigung sollte sich aber als noch viel schwieriger erweisen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wechselten sich mehrfach ab und auch neue Reinigungsutensilien mussten erworben werden, um der Herausforderung Herr zu werden. Anfangs wurde darüber spekuliert, ob diese eventuell aus einem anderen Edelmetall beschaffen wären. Doch nach fünf Minuten sollten glänzende Stellen hervortreten. So wurde 25 Minuten lang geputzt und die Gruppe war stolz auf das Ergebnis und motivierter als zuvor, weitere Steine zum Glänzen zu bringen.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass kein Spülmittel oder sonstige Reinigungsmittel zum Einsatz kamen. Der Schaum ist auf das kräftige Schrubben zurückzuführen. Das heiße Wasser aus der Thermoskanne hat einerseits die tauben Finger gewärmt. Andererseits konnten damit schnellere Erfolge erzielt werden, weil sich die dünnen Staubpartikel besser lösen ließen.

Auf dem Borbecker Markt vor der Hausnummer 5 sollte ein weiterer Stein verlegt sein, dessen Suche die nächste Herausforderung darstellte. Angesichts des Zustands war ein „darüber Stolpern“ nicht mehr möglich und es musste lange gesucht werden. Elli Loewenstein, eine Angehörige des ehemaligen Schülers Eli Loewenstein, hatte hier ihren letzten freiwilligen Wohnsitz. Zu Eli Loewenstein wurden viele Nachforschungen angestellt, die bei den Schülern viele Fragen aufgeworfen haben. In der NS-Zeit war Eli in mehrfacher Hinsicht benachteiligt, denn er war auch körperlich behindert. Er wurde von sehr unterschiedlichen Familien teils gegen das NS-Gesetz beherbergt, die ihm einen gewissen Schutz ermöglichten. Aber zum Erfolg führten diese Unternehmungen leider nicht. Eli wurde 1942 nach Theresienstadt verschleppt und ermordet. Auch diese Geschichte wurde wieder in Erinnerung gerufen, als die Gruppe kräftig und lange schrubbte.

3. Station: Marktstraße

Auf dem Rückweg zur Schule ist die Gruppe auf der Marktstraße über zwei weitere Stolpersteine sprichwörtlich gestolpert. Es war offensichtlich, dass diese in regelmäßigen Abständen gereinigt wurden, denn sie glänzten recht gut. So musste nur einmal kurz poliert werden. Eine Recherche durch Frau Güngör hat ergeben, dass diese Steine eine Patin besitzen, die sich um die Pflege dieser kümmert. So erfüllen diese Stolpersteine auch ihren Zweck, was die Gruppe bezeugen kann.

Namen und Geschichten mahnen

Die Arbeit am 7. November sollte nicht nur eine Auftaktveranstaltung darstellen, sondern auch den Auftrag der Stolperstein AG metaphorisch abbilden. Die AG möchte den ehemaligen Schülern des Gymnasiums Borbeck ihre Namen und ihre Geschichten vor der Verfolgung zurückgeben. Ihre Schicksale sollen zugleich aber auch mahnen und zu weiteren Aktionen gegen rechtsradikale Gewalt und Gedanken anregen.

Die AG findet donnerstags in unregelmäßigen Abständen statt und thematisiert die Schicksale der ehemaligen Schüler des Gymnasiums Borbeck. Neben der Bearbeitung des bereits vorhandenen Informationsmaterials sollen weitere Recherchen im Stadtarchiv sowie im Archiv der „Alten Synagoge“ Essen in Kooperation mit dem Bildungswerk der Humanistischen Union folgen. Das Informationsmaterial wird dann in Zusammenarbeit mit dem Medienzentrum der Stadt Essen von Schülerinnen und Schülern in einem speziellen Workshop aufbereitet und der Schulgemeinschaft sowie der breiten Öffentlichkeit durch unterschiedliche Kanäle zur Verfügung gestellt.

Für Interessenten und weitere Anregungen sind Herr Dr. Hüning und Frau Güngör gerne ansprechbar.

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