„Vieles erinnert im Moment an Karfreitag“

Beobachtungen in Essen und Spuren in Borbeck

0 30.03.2020

ESSEN. „Vieles erinnert im Moment an Karfreitag“, sagt der Essener Cityseelsorger Bernd Wolharn. Und blickt auf das Weihwasserbecken am Ausgang des Essener Doms: Es ist nun schon seit zwei Wochen trocken – so wie sonst nur an einem Karfreitag. Nach der Absage aller Gottesdienste und der Schließung der umliegenden Geschäfte kommen nur noch wenige Menschen in die jahrhundertealte Kirche in der Essener Innenstadt. Doch sie ist wie viele Kirchen im Ruhrbistum und in Borbeck auch in der Corona-Krise nach wie vor geöffnet.

Kerzen im Essener Dom

„Tag für Tag kommen weniger“, beobachtet Wolharn. „Gerade viele Ältere bleiben jetzt zuhause“, sagt der Priester, der mit den Küstern und dem Sicherheitsmann zu den wenigen Menschen gehört, die noch täglich im Dom präsent sind. Das sei nachvollziehbar und ja auch so empfohlen, „aber für viele ist das hier eine Heimat – und diese Sehnsucht nach Heimat, die kann man nicht einfach abstellen“. Der morgendliche Gottesdienst sei für sie oft der einzige Kontakt des Tages – und der falle jetzt weg. Und doch kommen einige noch immer, stellen gezielt eine Kerze bei der Goldenen Madonna auf, an der Marienikone der „Immerwährenden Hilfe“ oder bei der Figur des Hl. Rochus, die im linken Seitenschiff in der Nähe des Eingangs an der Wand angebracht ist. Sie zeugt bis heute von einer der schlimmsten Katastrophen, von der die Stadt Essen gleich mehrmals getroffen wurde – der Pest.

Schutzpatron Hl. Rochus

Dargestellt ist in der spätmittelalterlichen Statue der Hl. Rochus von Montpellier (1295-1379) als Pilger mit Hut und Umhang, einen Stab in der Linken. „Hl. Rochus, bitte für uns!“ steht auf dem Steinsockel und mit der rechten Hand zeigt der Heilige auf sein entblößtes rechtes Bein, um die Pestbeule zu zeigen, von der er der Überlieferung nach selbst gezeichnet war. Bei einer Pilgerfahrt von Südfrankreich nach Rom 1317 soll er zuvor zahlreiche Kranke in Norditalien geheilt haben. Immer zu erkennen ist er an einem kleinen Hund, der ihm zur Seite steht – nach der legendenhaften Überlieferung stand dem erkrankten Pilger in der Krankheit bei und sorgte für Brot. Weil Rochus die Seuche überlebte, wurde er jahrhundertelang in ganz Europa als einer der beliebtesten Volksheiligen angerufen und in den Kreis der sogenannten „14 Nothelfer“ aufgenommen.

Seine 1478 in Venedig aufgeschriebene Legende machte ihn überall äußerst populär. Auch in Essen ging damals ein Jahrhundert der Epidemien zu Ende: Pestwellen sind für die Jahre 1400/01, 1439 und 1450 bezeugt, auch 1483 und 1494 brach die Krankheit erneut aus. Kurz nach 1500 entstand die Skulptur im Essener Dom wohl am Niederrhein, viele Figuren und auch Kirchenpatrozinien sind in unserem Raum bis heute noch erhalten.

Mit Wein gegen die Seuche

Die Angst vor Epidemien ist ebenfalls im Borbecker Raum bezeugt: Dies zeigen die Aufzeichnungen von Jacob Burrichter, der aus Dorsten stammte und 1615-1636 als Pastor in Borbeck wirkte. Er ordnete die kirchlichen Verhältnisse, begründete das Borbecker Schulwesen und brachte die kirchliche Armenstiftung wieder auf Vordermann. Sie muss damals sehr vernachlässigt und ungeordnet gewesen sein - dies geht aus einem Schriftwechsel mit Fürstäbtissin Margaretha Elisabeth von Manderscheid-Gerolstein vom 25. Oktober 1600 hervor.

Burrichter ging der Sache tatkräftig nach, ermittelte die Inhaber der Kapitalien und beschaffte die rechtsgültigen Unterlagen. Für die Stärkung der Kranken seiner Pfarrei setzte er bei den regelmäßigen Krankenbesuchen auf - Wein. Jeder erhielt nach der Spendung der hl. Sakramente einen Becher. Für die Beschaffung des Weins selbst war von der Pfarre ein besonderes Stück Land verpachtet worden und der Pächter des „Weinackers" hatte für den Bedarf an Meßwein und für den Nachschub bei den Kranken zu sorgen: Er „solle denn wein pro sacrificiis vnnd den Kranken, wehn keine Krenckte (Seuche) oder Pest ist, bestellen", heißt es. 1623 reichte der Wein nicht aus: „... alß die große sterffte vnd Pestillents gewesen", musste zusätzlich Wein von Weinkaufmann Adam Merll in Essen geholt werden.

Wie exakt Burrichter seine Armenstiftung führte, weist das 1626 angelegte Register aus. Es berichten etwa von einer Spende, die Anna Vagedes von Ripshorst zur Zeit des „großen Sterbens und der Pestilenz“ an die Kasse geb, die man in einer Kiste in St. Dionysius aufbewahrte: „Item hat Enne Vagedes auf der Ryppeshorßt alß die große sterffte vnnd Pestillentz gewesen, unseren Armen 23 DIr Capital gegieben, dauon die erste Pension im Jair sieben vnd zwenzigh felligh gewesen." Pastor Burrichter, der sich bei seinen Krankenbesuchen wohl infiziert hat, starb am 29. November 1636 selbst an der Pest.

Pestkreuz: Spuren in Borbeck

1668, als Essen wieder mit einer schweren Pestepidemie zu kämpfen hatte, hinterließ dies auch in Borbeck sichtbare Spuren: Bis heute steht das „Pestkreuz“ an der Ecke Unterstraße / Jagdstraße. Das Kruzifix trägt die Aufschrift „Vor Pest, Krieg und Hungersnot bewahre uns, o Herr.“ Das Wegekreuz wurde 1668 von den Anwohnern zum Dank errichtet, als das Gebiet nach den Gebeten der Frintoper wie durch ein Wunder verschont blieb.

Sorgen von heute in der Münsterkirche

Zurück in die Münsterkirche: Die Gespräche, die Cityseelsorger Bernd Wolharn heute - in gebotenem Abstand – dort mit den weniger gewordenen Kirchenbesuchern führt, drehen sich ganz ähnliche Ängste wie damals: Natürlich geht es immer um Corona, um praktische Probleme, Kontaktverbote und Einsamkeit, sagt er – aber auch um ganz andere Dinge, schließlich geht das Leben auch in der Corona-Krise weiter. Viele beten jetzt daheim am Küchentisch, abends mit einer Kerze im Fenster, in Videokonferenzen oder WhatsApp-Gruppen und schauen Gottesdienste im Fernsehen oder im Internet an. Das sei alles gut und wichtig, sagt Wolharn – und doch sei der Wert „dieses Ortes“, wie er sagt, nicht zu verachten. Und wer weiß, meint er, vielleicht kommen ja nach der ersten Corona-Schockstarre in den kommenden Tagen wieder ein paar mehr Menschen in den Dom und die anderen geöffneten Kirchen und machen sich auf die Suche nach diesem „Wert“. Vielleicht suchen sie liebgewonnene Ritualen, Gebete und Gesänge der Kar- und Ostertage.

„Die Älteren sagen mir: Selbst im Krieg und größter Not haben wir das gefeiert!“, berichtet der Seelsorger und erzählt von einzelnen Menschen, die jetzt lange in der Kirchbank sitzen, im Gebetbuch „Gotteslob“ lesen oder mit dem Buch den Kreuzweg beten. Wolharns Hoffnung: „So sehr die Menschen Abstand zu ihren Nachbarn halten müssen, so sehr erfahren sie hier womöglich, wie nah ihnen Gott ist.“ Wichtig sei, „dass wir nicht am Karfreitag stehen bleiben, sondern dass wir Ostern feiern!“ Dabei geht es ihm weniger um bestimmte Gottesdienste als um die christliche Grundhaltung: „Dass wir Ostern das Leben feiern!“ Auferstehung eben, den Sieg über den Tod. Vielleicht ist das in diesen Corona-Tagen ja auch für manchen eine Perspektive, der eine Kirche wie den Essener Dom bislang nicht als seine Heimat bezeichnet hat. (CB)

Quellen: Rünker, Thomas: Der heilige Rochus wartet auf Besucher, Pressemitteilung Bistum Essen 30.3.2020; Goebel, F.: 800 Jahre St. Dionysius Borbeck. In: MÜNSTER a.H. 20 (1967), Bilder: Achim Pohl / Bistum Essen

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