394. Große Borbecker Prozession

BORBECK. Am Sonntag, 5. Mai 2024, zieht die traditionsreiche Borbecker Gottestracht wieder durch die Straßen. Der Prozessionstag beginnt um 9:30 Uhr mit der Eucharistiefeier in St. Maria Rosenkranz, alle übrigen Sonntagsmessen entfallen. Anschließend zieht die Prozession über folgende Wegstrecke: Germaniastr. / Zinkstr. / Flandernstr. / Verbindungsweg zur Zechenstr. / Zechenstr. / Germaniastr. / 1. Segensstation im Hof der Don Bosco Schwestern / Germaniastr. / 2. Segensstation am Heiligenhäuschen Ecke Germaniastr./Gerichtsstr. / Germaniastr. / Germaniaplatz / Marktstr. / Borbecker Platz. Dort wird an der 3. Segensstation der Schlusssegen mit der Monstranz erteilt. Im und vor dem Dionysiushaus wird es dann Gelegenheit zum Mittagessen und zur Begegnung geben.

Sollte es regnen, bleibt es beim Ort „St. Maria Rosenkranz“; dort findet dann auch die Begegnung statt. Vereine und Verbände werden gebeten, mit Bannerabordnungen teilzunehmen: „Herzlich laden wir zur Mitfeier der Eucharistie, zur Prozession und der anschließenden Begegnung ein“, freut sich die Pfarrei auf viele Teilnehmende und verweist auf die gute Anbindung der Rosenkranzkirche an die Straßenbahnlinie.

Vorgänger sind alte Flurprozessionen

Die 394. Borbecker Gottestracht – so die offizielle Zählung – ist sicher deutlich älter: Sie setzt die bereits länger bestehenden Bitt- und Flurprozessionen fort, wie sie an den drei Bitt-Tagen vor Christi Himmelfahrt üblich waren, verbunden mit der Grenzbegehung der Gemeinden und der Bitte um gutes Wetter, das Gedeihen der Feldfrüchte und um eine gute Ernte. Denn von ihr hing auch im damals bäuerlich geprägten Borbecker Stiftsgebiet schlicht das Überleben ab. Diese frommen Flurumgänge wandelten sich an vielen Orten zu Fronleichnamsprozessionen, die sich seit dem frühen 13. Jahrhundert über Lüttich (1246) und Köln (1279) verbreiteten. Papst Urban führte 1264 das Fest das „Hochfest des Leibes und Blutes Christi" für die gesamte Kirche 10 Tage nach dem Pfingstsonntag und 60 Tage nach Ostern ein. Das Wort „Fronleichnam" leitet sich vom mittelhochdeutschen „vrône lîcham" für „des Herren Leib" ab. Auch in Borbeck nahm der Brauch die Fronleichnamstradition auf, hielt aber an dem alten Termin der Bitt-Tage rund um Christi Himmelfahrt fest.

Von Südtirol nach Essen

Dafür verantwortlich ist eine energische Südtirolerin, die vor 410 Jahren als Fürstäbtissin ihr Amt im Stift Essen antrat: Maria Clara von Spaur, Pflaum und Vallier (1590-1644) stammte aus einem Freiherrngeschlecht mit engen Beziehungen zum Haus Österreich, hatte fünf Sprachen gelernt, war verwandt mit dem ehemaligen Fürstbischof von Brixen und wollte ihren Geschwistern nicht nachstehen: Zwei Schwestern hinterließen als äußerst selbstbewusste Äbtissinnen bleibende Spuren im schwäbischen Buchau und in der Südtiroler Abtei Sonnenburg im Pustertal, drei Brüder machten Karriere im Kaiserlichen Heer der Liga. Vielen im Essener Stiftskapitel, das auf die Herkunft der Fürstin aus altem Adel bestand, war sie trotz allem nicht vornehm genug. Bei der hochpolitisch aufgeladenen Äbtissinnen-Wahl in Essen 1614 musste sie sich gegen die konkurrierenden protestantischen Gegnerinnen mit starker Unterstützung des Kaisers wie des Kölner Erzbistums gegen große Widerstände durchsetzen. Nur vier Jahre später brach der verheerende 30-jährige Krieg (1618-1648) aus, in dem auf dem ganzen Kontinent politische, wirtschaftliche und konfessionelle Interessen mörderisch aufeinanderprallten.

Kriegerische Zeiten

Fürstäbtissin Maria Clara, zugleich Äbtissin der Frauenstifte Nottuln und Metelen, trat in Essen mit klar gegenreformatorischen Zielen an – damit war sie in der reformiert geprägten Stadt alles andere als beliebt. 1615 hatte sie schon den Kapuzinerorden ins Land gerufen, förderte ihn wie die bereits in der Stadt ansässigen Jesuiten und erließ 1616 und 1624 restriktive Religionsordnungen. Das betraf auch das umliegende katholische Stiftsgebiet: In einer am 26. Juni 1628 signierten Anordnung befahl die Landesherrin dem damaligen Borbecker Pastor Jacob Burrichter (1615-1636), die „Procession, wie von alters brauchlich gewesen ist, itzo wieder anstellen“ und am Sonntag nach Christi Himmelfahrt abzuhalten. Das geschah in kriegerischen Zeiten: Im Vorjahr noch waren 10 Kompanien Spanier zu Fuß und sechs Kompanien deutsche Kavallerie unter Kommando von Don Philipp de Sylva und Don Francesco de Medina in die Stadt eingerückt, als sich protestantische niederländische Truppen näherten, musste die Fürstin nach Köln fliehen, den Stiftsschatz und die Kanzleiakten im Gepäck. Auch Borbeck wurde mehrmals geplündert, 1628 brachen kaiserliche Soldaten gar die Kirche auf und rauben die in der Sakristei deponierten Gelder der Armenstiftung. Keine einfachen Zeiten also, um schutzlos zu einer „Prozession“ durch das Kirchspiel zu ziehen.

Der Pastor hoch zu Pferd

Damit bei der Prozession alles seine Ordnung haben sollte, gab die Anordnung von Maria Clara zu Protokoll, „dass der Frohne gegen solche Zeit die Wege räumen, und aufsicht haben soll, damit keine disordnung gehalten, und ungepürende insolentz causirt werde“ – der ganze Zug durch das Gebiet sollte würdig ablaufen können. Dass der Pastor mit der Monstranz in der Hand ein Pferd nutzen konnte, wird ihm zumindest entgegengekommen sein: „... desgleichen sollen die Kirchmeister dem Pastorn ein Pferd bestellen, und nach vollendeter Procession Zwey Reichsthlr. für refection und zum zeyradt ein Reichsthlr. folgen lassen.“ Zuvor war es für alle Beteiligten allerdings ein langer Weg: Bis zu sechs Stunden lang zog die Prozession durch das gesamte Kirchspiel - zuerst über Vogelheim, Bochold, den Möllhoven und Schönebeck nach Bedingrade. Nach der Pause zog die Gottestracht weiter nach Frintrop und über die heute zu Oberhausen gehörende Lipperheide, dann nach Dellwig und Gerschede zurück nach Borbeck. Schützen eskortierten das reich geschmückte „pastorale“ Reitpferd mit dem Allerheiligsten und schossen nach dem Segen an jeder Station eine Salve.

Dass – wie hin und wieder zu lesen - Maria Clara von Spaur mit ihren Hofdamen in prachtvoller Kutsche mitreiste und nach der Festlegung dieses eigenen Termins für Borbeck dadurch auch bei der Essener Fronleichnamsprozession teilnehmen konnte, ist zumindest zweifelhaft: Für ihre meisten Nachfolgerinnen bis zur Auflösung des Stiftes mag das gelten, doch sie selbst war bereits im Jahr vor ihrer Anordnung ins sichere Köln geflüchtet. Erst 1629 wendete sich das Kriegsglück und sie kehrte im Schutz katholischer Truppen nochmals kurz nach Essen zurück – ein allerdings nur ein kurzes Zwischenspiel, das bis zum Eintreffen von verstärktem protestantischem Militär dauerte. Maria Clara begab sich nun ganz nach Köln, lebte im dortigen Kloster Mariengarten, gab aber die Ansprüche als Essener Äbtissin nicht auf. Am 14. Dezember 1644 starb sie in ihrem Exil.

Prachtvolle Triumphstraßen

Soweit der Blick in die Anfangsjahre der Borbecker Gottestracht, die nun bald vier Jahrhunderte zurückliegen. Doch die von Maria Clara mit ihrem speziellen Termin neu begründete Prozession wurde als öffentliches Glaubensbekenntnis auch später durchaus zum Politikum: In der Zeit des „Kulturkampfs“ wurde die Borbecker Prozession 1876 von den Behörden schlichtweg verboten. Erst als sich schließlich die auch hier spürbaren Auseinandersetzungen zwischen Staat und katholischer Kirche legten und weitere neue Pfarrgemeinden auf dem Gebiet der alten Bürgermeisterei entstanden, übernahm die Prozession eine wichtige Rolle als verbindendes Moment unter den Gemeinden: Sie wurde zum äußeren Höhepunkt einer zunehmend demonstrativ öffentlich gezeigten Frömmigkeit, die vor allem die Verehrung der Eucharistie in den Vordergrund stellte.

Ihr war nicht nur der neue 1915 entworfene Hochaltar von St. Dionysius ausdrücklich gewidmet, sie zeigte sich ebenso im Auftreten von Bruderschaften und neuen Andachten, in Aufrufen zu stärkerem Kommunionempfang, der neuen Herz-Jesu- und Christ-König-Verehrung, zudem in großen Wallfahrten, die mit wachsender Beteiligung aus Borbeck nach Hardenberg (Neviges) und Kevelaer führten. Parallel dazu kam es zur Gründung Eucharistischer Ehrengarden, die 1894 ihren Anfang in Essen nahmen und vor allem dem Schutz und der Förderung der Prozessionen gewidmet waren. Sie und alle Pfarrgruppierungen setzten dem prunkverliebten Wilhelminischen Kaiserreich mit dem kirchlichen Festtag die ganz eigene, ausdrücklich katholische Variante entgegen und zeigten auch in der Weimarer Republik unübersehbar ihre Präsenz.


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war jedem klar: Die Zeiten ändern sich. Rechts: Die Große Prozession" - der Schlusssegen vor der 1946 noch kriegszerstörten St.Dionysius-KIrche

Sportlicher frommer Wettstreit

Überall konkurrierten für die Gottestracht bald zahlreiche neue Pfarrorganisationen und zahlreiche Komitees um die Ausstattung des Prozessionswegs, für dessen Ordnung gewählte Brudermeister die Verantwortung übernahmen. Mehrere „Fahnenvereine“ in den Nachbarschaften wetteiferten beim Schmücken der Segensaltäre und in der Begleitung eines möglichst prächtigen Prozessionszuges, die männliche Pfarrjugend baute riesige Ehrenbögen über den Straßen. Anzeigen örtlicher Geschäfte warben für zahlreiche „Fronleichnamsartikel“ wie Girlanden, Fahnen, Sprüchen, Schildern, Palmen oder Tragkissen, auf denen Erstkommunionkinder christliche Symbole trugen. Der Schmuck von Schaufenstern und übrigen Fenstern verstand sich von selbst und Militärkapellen sorgten für die musikalische Begleitung durch die die „Triumphstraßen“. Prächtiger Höhepunkt war stets das sorgfältig inszenierte Schlussbild aller Teilnehmer zum eucharistischen Schluss-Segen auf dem Kirchplatz. 1921 schrieb der Korrespondent der Essener Volkszeitung, „kaum eine schönere Prozession in den größten Städten der Rheinprovinz oder Westfalens gesehen zu haben.“

Segen und Gebet um den Frieden

Ob in Borbeck oder weltweit: Was genau mit der Prozession überhaupt gemeint ist, wird sich heute nicht mehr jedem erschließen. Im Zentrum steht die gewandelte Hostie, der Leib Christi, der begleitet vom „Volk Gottes“ in einer kostbaren Monstranz (lateinisch monstrare = zeigen) durch die Straßen getragen wird, geschützt von einem „Himmel“ genannten Stoffbaldachin. Auf dem Weg werden Stationen an bis zu vier oft mit Blumenteppichen geschmückten Außenaltären gehalten. Bei jedem wird ein Abschnitt aus dem Evangelium vorgetragen, es werden Fürbitten für alle Menschen und um den Frieden gesprochen, zuletzt wird der sakramentale Segen in alle Himmelsrichtungen und über die Stadt gespendet. Die Prozession schließt meist in der Pfarrkirche mit dem „Tantum ergo", einem Abschluss-Segen und dem „Großer Gott, wir loben dich".

CB


Im Mittelpunkt des Prozessionsgeschehens: Die große Monstranz von St. Dionysius, entworfen von dem Kölner Architekten Hermann Neuhaus B.D.A. und ausgeführt durch das Atelier des Hof- und Stiftsgoldschmieds August Witte in Aachen. Sie war vor rund 100 Jahren Teil der Neuausstattung von St. Dionysius und dient bis heute auch in der Anbetungskapelle der Kirche einem einzigen Zweck: In der Mitte der Monstranz ist das Altarsakrament, die runde Hostie, aufbewahrt - nach dem katholischem Glauben Zeichen für die lebendige Anwesenheit Christi. Sie wird bei der Prozession unter einem baldachinartigen "Himmel" getragen und von der ganzen Gemeinde begleitet.

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